Liebe Leserin, lieber Leser,
zurzeit erleben wir gleichsam in Echtzeit, wie Wissenschaft Wissen schafft.
Vorläufige Ergebnisse werden publiziert, die wegen des enormen Zeitdrucks weder eingehend fachlich begutachtet (= peer reviewed) noch von anderen Forschenden reproduziert wurden. Entsprechend vorsichtig sprechen (seriöse) Wissenschaftler:innen darüber.
Wir erleben, wie Wissenschaftler:innen im Konjunktiv formulieren, wie sie vom derzeitigen Stand der Erkenntnisse sprechen, wie sie Worte wie vermutlich, wahrscheinlich, möglicherweise in Stellungnahmen verwenden. Und wie sich ihre Positionen und Meinungen verändern – da sich die Wissenslage verändert.
Bis jetzt werden Unsicherheiten in Politik, Unternehmen und Medien nur selten kommuniziert. Sind Wissenschaftler:innen, die im Konjunktiv sprechen, geschätzte R-Zahlen, vermutete Dunkelziffern und Sterberaten deshalb eine Provokation für eine nach klaren Botschaften strebende Gesellschaft?
Möglich. Denn für manche – in der Regel solche, die wenig mit wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen vertraut sind – scheint dies so zu klingen, als würden die Wissenschaftler:innen ihre Meinung ändern oder sich nicht richtig auskennen. Ja, man beginnt, an ihrer Kompetenz zu zweifeln.
Dabei ist doch gerade das ein Zeichen von Kompetenz: zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen.
Was können wir aus der aktuellen Diskussion eines Themas, bei dem es noch viele Unsicherheiten gibt, für die Kommunikation im Beruf lernen?
Wie gehen wir damit um, wenn es bei dem Thema, über das wir schreiben, Unsicherheiten gibt? Wenn die Faktenlage mehrdeutig ist? Wenn noch wenig bekannt ist oder in rasantem Tempo immer neue Erkenntnisse dazukommen?
Wie schnell wird der Meeresspiegel ansteigen? Wie wird der Aktienmarkt am Ende des Jahres aussehen? Wie hoch wird die Wahlbeteiligung sein? Wird es bestimmte Branchen nach Corona noch geben? Welche Produkte werden am Markt bestehen? … Alles Fragen, die wir im Moment nicht sicher beantworten können.
Können wir uns aber trauen, das zuzugeben? Offen über die Grenzen unseres Wissens zu sprechen?
Oft haben wir Sorge, als weniger kompetent eingeschätzt zu werden, wenn wir nicht eindeutig sagen können, welches Ereignis eintritt; wenn wir nur eine Variante für etwas angeben können; einen Korridor, in dem sich etwas ereignen kann.
Doch verlieren Menschen wirklich das Vertrauen in unsere Kompetenz, wenn wir offen kommunizieren, dass etwas noch nicht gesichert ist? Oder wenn wir zugeben, auf Basis neuer Fakten unsere Position geändert zu haben?
Der Sozialpsychologe Sander van der Linden und sein Team an der Universität Cambridge haben dies überprüft. Zumindest für Zahlen. Dazu bekamen 5.780 Menschen unterschiedliche Nachrichtentexte zu Themen wie Klimawandel, Wirtschaftslage und Migration zu lesen. In den Texten wurden einige Aussagen mit Zahlen untermauert, die in einem möglichen Korridor liegen.
Einmal wurde einfach das Mittel dieses Korridors als feststehende Zahl kommuniziert. In anderen Versionen wurde dargelegt, dass die Zahl nicht sicher anzugeben ist: einmal durch einen Zahlenkorridor, der in Klammern hinter dem Mittel angegeben wurde, ein anderes Mal wurde durch Worte wie „geschätzt“ oder „ungefähr“ vor der Zahl darauf hingedeutet, dass dies keine feste Zahl sei. Und einmal wurde ausdrücklich formuliert, dass es Schwankungen gibt.
Ein (fiktives) Beispiel, um es zu verdeutlichen:
Wenn wir eine Zahl wie 17 Prozent lesen, dann interpretieren wir diese Zahl automatisch als fest gegeben (selbst wenn die Zahl in Wirklichkeit nur ein Mittelwert ist). Erst wenn wir durch die Angabe eines Zahlenkorridors oder durch eine Formulierung explizit darauf hingewiesen werden, dass die angegebene Zahl ein Mittelwert ist, erkennen wir mögliche Schwankungen an. Das ist noch nicht verwunderlich.
Die Frage ist jetzt: Wie weit wirkt sich die Wahrnehmung, dass die kommunizierten Zahlen nicht fest sind, sondern nur einen Mittelwert wiedergeben bzw. schwanken auf die Glaubwürdigkeit der Zahlen und der Quelle aus?
Das Ergebnis: Die Wahrnehmung der Zahlen als nicht fix, sondern schwankend bzw. innerhalb eines Korridors reduzierte die Glaubwürdigkeit sowohl der Zahlen als auch der Quelle. Allerding – und das ist das erstaunliche – nur relativ gering.
Zahlen vertrauen wir mehr
Einen Unterschied gab es allerdings: Wurde die Unsicherheit im Text mit Worten ausgedrückt, reduzierte dies das Vertrauen in Quellen und Zahlen stärker, als wenn dies über Zahlen geschah; unabhängig vom Thema. Insgesamt war der Effekt auf das Vertrauen in die Zahlen oder in die Quelle, wie bereits geschrieben, sehr gering.
Offen über Unsicherheiten oder noch nicht klare Datenlagen zu sprechen, reduziert nach Ansicht der Forschenden das Vertrauen in diese Fakten und in die Quelle nur minimal. „People can handle the truth“ – Die Menschen können mit der Wahrheit umgehen, ist eine der Schlussfolgerungen, die die Forschenden aus der Studie ziehen.
Sie schränken zwar ein, dass ihre Studie nur die Kommunikation von Zahlen untersucht hat, sehen ihre Forschung aber als Beitrag dazu, Unsicherheiten und mögliche Unterschiede insgesamt offener und differenzierter zu kommunizieren.
Unsere Position: Geben Sie in Ihren Texten offen zu, wenn etwas noch nicht sicher ist. Wenn Sie zum Beispiel nicht genau beziffern können, wie viele Feldhamster exakt vom Bau der neuen Straße betroffen sein werden, schreiben Sie eben, dass Sie von etwa 500 bis 1000 ausgehen. Solange Sie darlegen können, wie Sie auf diese Zahlen gekommen sind, bleiben Sie glaubhaft. Indem Sie einräumen, dass eine Position nicht in Stein gemeißelte Erkenntnis ist, reduzieren Sie zudem die Fallhöhe, wenn spätere Informationen ein Umdenken