Wovor fürchten Sie sich mehr: Opfer einer Terrorattacke oder Opfer eines Unfalls zu werden, weil jemand beim Autofahren aufs Handy schaut?
Die meisten Menschen haben mehr Angst vor einem Terroranschlag. Dabei ist das Risiko, durch abgelenkte Autofahrer:innen getötet zu werden (zumindest in Deutschland) um ein Vielfaches höher. Nehmen wir das Jahr 2016, in dem es durch den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz und den Amoklauf in München besonders viele Terroropfer gab: 22 Tote (laut Wikipedia) stehen etwa 320 Verkehrstoten durch Handynutzung am Steuer gegenüber.
Wir verstehen komplexe Risiken nicht
Was heißt das nun? Wir Menschen sind schlecht darin, komplexe Risiken abzuschätzen und zu bewerten. Die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, auch wenn nicht alle Risiken bekannt sind oder berechnet werden können, ist bei den meisten von uns schlecht ausgeprägt, kurz: Wir haben keine gute Risikokompetenz. Das liegt nicht nur daran, dass wir in der Schule bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht gut aufgepasst haben. ?
Gefühl schlägt Vernunft, Neuheit schlägt Gewohnheit
Wir fühlen Risiken eher, als dass wir sie wirklich begreifen. „Gefühlte“ Gefahren bewerten wir als größer als solche, die zwar sehr viel wahrscheinlicher eintreten, aber für uns nicht greifbar sind.
Auch bei Dingen, die wir als neu oder unbeherrschbar ansehen, neigen wir dazu, die Gefahr zu überschätzen. Gefahren jedoch, an die wir uns gewöhnt haben – wie zum Beispiel Verkehrsunfälle oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – nehmen wir nicht als so schlimm war. Woher kommt das?
Wir brauchen es konkret und sinnlich
Unser Angstsystem spricht auf einfache und vor allem greifbare Dinge an. Stehen wir einem hungrigen Säbelzahntiger gegenüber, so verstehen wir die Gefahr, die von ihm ausgeht, recht schnell.
Anders ist das bei den Gefahren, die wir weder sehen noch fühlen. Oder die wir nicht genau zeitlich verorten können, weil sie sich etwa erst in der Zukunft auswirken. Dies trifft auf Radioaktivität oder langsam wirkende Gifte zu. Auch die Klimakrise ist ein Paradebeispiel dafür. Ausgerecht bei der größten aller Bedrohungen unserer Zeit springt unsere Risikowahrnehmung viel zu zögerlich an.
Was hat das mit mir zu tun
Ob wir ein Risiko als hoch oder niedrig einschätzen, hängt außerdem damit zusammen, ob wir es freiwillig eingehen. Und auch damit, ob wir das Gefühl haben, die Situation kontrollieren und beeinflussen zu können und ob wir glauben, selbst davon betroffen zu sein.
Aus alldem folgt: Wie (groß) wir ein Risiko wahrnehmen, ist subjektiv.
Texte über Risiken: Achtung „wissenschaftlicher Konjunktiv“!
Es ist also eine echte Herausforderung, so klar und verständlich über Risiken und Unsicherheiten zu schreiben, dass die echte Gefahr bei den Lesenden ankommt. Viele Expert:innen erklären Risiken zwar fachlich korrekt, aber eben nicht verständlich (für Laien). Woran liegt das?
Wissenschaftliche Prognosen beruhen häufig auf Modellen, die verschiedene Szenarien durchspielen. Schon kleine Änderungen in den Annahmen können die Modellierungen verändern. Absolut sichere Aussagen lassen sich also nie treffen. Diesem Fakt zollen Wissenschaftler und Expertinnen Tribut, indem sie ihre Aussagen und Prognosen meist im Konjunktiv formulieren.
Konjunktiv ist mehrdeutig
Für viele Menschen bedeutet der Konjunktiv jedoch: Etwas ist nicht gewiss. Dies ist ein entscheidendes Problem bei der Risikokommunikation. Die eine Seite glaubt, sie kommuniziere klar und präzise – und die andere Seite liest etwas ganz anderes daraus.
Schauen wir uns ein Beispiel an – aus einem Zeit-Artikel im vergangenen Jahr:
https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2020-05/klimawandel-meeresspiegel-anstieg-bis-jahr-2300
Der Artikel ist überschrieben mit „Der Meeresspiegel könnte bis 2100 um mehr als einen Meter steigen“. Korrekt im Konjunktiv formuliert, denn wir wissen ja nicht, ob es genau ein Meter wird. Es könnte auch mehr oder weniger sein.
Bei den Leser:innen kann die Formulierung jedoch auch das Gefühl auslösen: „Die wissen es ja auch nicht genau. Der Meeresspiegel könnte steigen – vielleicht aber auch nicht.“
Der Artikel geht weiter:
Bei gleichbleibenden Treibhausgasen könnte der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um durchschnittlich mehr als einen Meter global ansteigen. Das ergab eine Umfrage der Nanyang Technological University in Singapur unter rund hundert internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bereits mehrere Forschungen zum Meeresspiegel veröffentlicht haben.
In einem Szenario von unvermindertem Ausstoß an Treibhausgasen mit einer Erwärmung um weltweit durchschnittlich viereinhalb Grad prognostizieren die Fachleute einen Anstieg von 0,6 bis 1,3 Metern bis 2100 und 1,7 bis 5,6 Metern bis 2300. Die Abschätzung basiert auf zunehmendem Wissen über Ozeane, Eismassen und Wasserkreisläufe.
Das ist alles korrekt formuliert. Trotzdem gibt es einige Fallstricke, die verhindern können, dass die Botschaft klar ankommt. Hier der Text noch einmal – mit den möglichen Gedanken einer Leserin.
Bei gleichbleibenden Treibhausgasen könnte (ist ja nicht sicher; die wissen es also nicht genau) der Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um durchschnittlich (das kann also bei uns auch weniger sein) mehr als einen Meter global (die Welt ist groß) ansteigen. Das ergab eine Umfrage (Umfrage? Das sind also nur gesammelte Meinungen?) der Nanyang Technological University in Singapur unter rund hundert internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die bereits mehrere Forschungen zum Meeresspiegel veröffentlicht haben (mehrere? Heißt das nun, das sind Expert:innen oder eher Anfänger:innen?).
Wie lässt sich das Risiko klarer vermitteln?
In einem Szenario von unvermindertem Ausstoß an Treibhausgasen mit einer Erwärmung um weltweit durchschnittlich viereinhalb Grad prognostizieren die Fachleute einen Anstieg von 0,6 bis 1,3 Metern (ach, das können auch nur 60 Zentimeter sein. Das ist ja gar nicht so viel) bis 2100 und 1,7 bis 5,6 Metern bis 2300 (da lebt niemand mehr, den ich kenne. Interessiert mich nicht). Die Abschätzung basiert auf zunehmendem Wissen (also wissen die noch gar nicht alles darüber?) über Ozeane, Eismassen und Wasserkreisläufe.
Unser Textvorschlag:
Wenn wir weiter unvermindert Treibhausgase ausstoßen, so wird sich die Erde weltweit durchschnittlich voraussichtlich um viereinhalb Grad erwärmen. Wissenschaftler:innen prognostizieren bei diesem Szenario in den kommenden 80 Jahren einen Meeresspiegel-Anstieg von mehr als einem Meter, also noch zu Lebzeiten unserer Kinder und Enkel.
Die Nanyang Technological University hat rund einhundert internationale Wissenschaftler:innen zu ihren Einschätzungen zum Anstieg des Meeresspiegels gefragt. Alle forschen seit Jahren über Ozeane, Eismassen und Wasserkreisläufe.
Auf Basis ihrer Forschungen gehen die Forscher:innen bei unvermindertem Treibausgasausstoß von einem durchschnittlichen Anstieg von etwa 1,3 Meter bis zum Jahr 2100 aus. Für Deutschland bedeutet dies konkret: Bremerhaven sowie Teile Norddeutschlands und Hamburgs werden unter Wasser stehen.
Wie bei allen Prognosen gibt es einen Korridor, in dem sich die Schätzung bewegt. Der geringste Anstieg wird nach den Befragten mindestens 60 Zentimeter betragen. Doch auch nach 2100 wird der Anstieg weitergehen: zwischen 1,7 und 5,6 Meter sind realistisch – wenn wir in den kommenden Jahrzehnten unvermindert Treibhausgase ausstoßen.
Was ist anders in unserem Text?
Wir …
Müssen / wollen / dürfen Sie auch über Risiken schreiben? Dann probieren Sie unsere Werkzeuge aus.
Herzlichst,
Nadja Buoyardane und Franziska Nauck